Ein Herz für Durstige

Prizren ist meine Wendemarke. Die Stadt schaut von den Leuten her viel orientalischer aus als die Städtchen, die ich bisher gesehen habe. Durch ein Stadttor kommen knorrige grauhaarige Männer in Baumwollkleidern und solche mit weißen Filzkappen. Da ich ein unsicheres Gefühl habe und es gerade erst mal Mittagszeit ist, schaue ich mir den Ort nicht einmal an, sondern strample gleich weiter in Richtung Priština.

Der kompakt graue Ort liegt recht geschützt, umringt von Hügeln und bedeckt von einer riesigen Rußwolke, die aus den Kaminen eines nahe gelegenen Industriegebietes aufsteigt und genau über der Stadt ihre größte Mächtigkeit entfaltet. Auch von innen wirkt die Stadt so richtig grau, eine echte Steinwüste. Passanten, die ich frage, erzählen mir, dass es hier zwei Hotels gibt. Die beiden liegen nebeneinander. Eines davon, das Parkhotel, ist voll, und das andere heißt Grand Hotel und kommt daher für mich nicht in Frage. Ich frage noch einmal nach einem Hotel und erzähle, dass die beiden voll sind. Es scheint wirklich keine anderen Unterkünfte zu geben. Der Park ist der häufigste Übernachtungstipp, den ich bekomme.

Ein paar junge Männer, von denen einer gut englisch spricht, bieten mir an, einen Bekannten zu fragen, ob er mich aufnimmt.

Wo kommst du eigentlich her? Deutschland. Federal or Democratic? Die Unterscheidung habe ich auch noch nie gehört. Vor allem wurde uns immer beigebracht, dass die Bundesrepublik, die Federal Republic, das demokratische der beiden deutschen Staatsgebilde ist. Aber natürlich hat der sozialistisch regierte Teil das Democratic im Namen, und vermutlich passt das so zum eigenen Verständnis von Demokratie.

Der Bekannte, ein stämmiger Kerl mit markantem Kinn, Stoppelbart und buschigen Augenbrauen, der augenscheinlich kein englisch oder deutsch spricht, zeigt sich einverstanden. Als wir einige hundert Meter durch die Stadt gezogen sind, meint der, ich wirke recht ängstlich, und das sei keine gute Ausgangslage. Das mit dem ängstlich stimmt zwar nicht, aber mir gefällt die Stadt sowieso nicht, und so ziehe ich, nachdem ich mich freundlich bedankt habe, wieder meines Weges.

Dieser Weg sollte zu einer Bank und dann aus der Stadt hinaus führen. Inzwischen habe ich aber die Orientierung ein wenig verloren. Vorsichtshalber frage ich einen weiteren Passanten nach dem Weg nach Vučitrn. Der bittet einen etwa zehnjährigen Jungen, der auf einem kleinen Rad mit einem kaputten Pedal unterwegs ist, mich aus der Stadt zu geleiten. Zwei Kurven weiter sind wir auf einer relativ steil aufwärts führenden Kurve, die zu einer Ausfallstraße führt. Und schon bin ich wieder unterwegs und gebe Gas, um noch irgend etwas zu erreichen, wo ich unterkommen könnte, oder wenigstens bis zum Einbruch der Dunkelheit ein gutes Stück von der Stadt entfernt zu sein. Bank hätte ich in Priština um diese Zeit sowieso keine mehr gefunden. Höchstens im Hotel hätte ich wechseln können. Zu spät, jetzt geht es stracks nach Norden, mit gut tausend Dinar in der Tasche, genug für Brot oder vielleicht ein Bier, aber bestimmt nicht für eine Übernachtung.

Wild campen möchte ich nur, wenn ich einen wirklich sichtgeschützten Platz finde. Auf eine Konfrontation mit der Polizei habe ich nämlich keine Lust. Auch wenn die Freunde und Helfer bisher allesamt hilfsbereit waren, möchte ich mein Glück nicht zu oft herausfordern. Vielleicht kann ich im nächsten Ort mit meinen Euroschecks bezahlen.

Die Lastwagenfahrer da vorne haben es leicht, die schlafen einfach im Wagen, wenn die Zeit dafür da ist, auch wenn sie gerade ein Problem zu haben scheinen. Vermutlich wollen sie die mehrere Meter langen Holzstangen, mit denen sie hantieren, als Hebel benutzen, um ihr Gefährt aufzubocken.

Selber radle ich so schnell ich kann die flache glatte Teerstraße entlang. Wenn es richtig finster ist, und ich tatsächlich nichts finde, werde ich einen für Autoscheinwerfer von der Straße aus nicht erreichbaren Punkt suchen, und mich dort bis zur Morgendämmerung hinlegen. Was niemand sieht, stört keinen. Für den Fall, dass mich doch jemand entdeckt und Anstoß daran nimmt, könnte ich vorsichtshalber die Luft aus einem der Reifen lassen. Dass ich zum Reparieren eines Platten Tageslicht brauche, wird jedem einleuchten, auch wenn ich inzwischen die meisten Reparaturen blind hinkriegen müsste.

In der allerletzten Abenddämmerung erreiche ich ein Motel. Die Übernachtung kostet dort sechzig Mark, im voraus, wie der Wirt betont, ohne mein Problem zu kennen. Den Preis habe ich inzwischen schon öfter gehört. Das ist der hohe Preis, der jemanden wie mich abschrecken soll. Zwanzig Mark ist der normale hohe Preis, der an meiner Schmerzgrenze liegt. Ich frage, ob ich mit Euroscheck bezahlen darf. Nein. Der resolut wirkende kräftige Mann ist vermutlich an schlechte Erfahrungen gewöhnt und lässt sich auf nichts ein.

Mit mir würde der praktisch nie ins Geschäft kommen. Erstens versuche ich immer, nicht mehr als zwanzig Mark pro Nacht zu bezahlen, und zweitens hebe ich wegen der starken Inflation selten mehr als sechzig Mark auf einmal ab, normalerweise zwei bis drei Tagesbudgets. Heute wäre ich zum Beispiel der Müdigkeit wegen bereit, dieses Vermögen auszugeben, aber er will ja Bargeld, und das im Voraus.

In der Nähe kennt er auch keine Unterkunft. Ich frage ihn, ob ich mich draußen auf der Terrasse hinsetzen darf. Kein Problem. Ich setze mich an einen er Tische auf der Terrasse und überlege. Heute mache ich nichts mehr. Ich bin so müde, dass bei jeder Aktion nur Unfug herauskäme. Brotzeit ist auch alle, bis auf eine große Schachtel nobler Butterkekse und jeder Menge Wasser. Meinen Schlafsack möchte ich nicht ausbreiten, um den Wirt nicht zu provozieren. So versuche ich, im Sitzen einzunicken, was mir zeitweise gelingt. Zwischendurch esse ich ein paar Kekse.

Der Nachtwächter – oder der Vater des Wirts? – ein hagerer alter Mann, der die Würde eines alten Landwirts und Patriarchen ausstrahlt, der aber dennoch für einen Nachtwächter eher schüchtern wirkt, setzt sich manchmal zwischendurch zu mir. Dann plaudern wir ein wenig, so weit unsere kaum vorhandenen gemeinsamen Sprachkenntnisse das zulassen. Wir haben ja Zeit.

Insgesamt ist die Nacht zwar lang und wenig erholsam, aber nicht furchtbar unangenehm. Einmal in fünf Wochen überlebt man das schon.

In der ersten Morgendämmerung breche ich auf. Schon nach wenigen Kilometern merke ich, dass ich trotz der kühlen Morgenluft steinmüde bin und kaum die Kraft aufbringe, mich im Sattel zu halten. Sobald es ein wenig wärmer ist, werde ich einen Platz für ein Nickerchen suchen.

Als die Sonne schon ihre wärmende Kraft hat, fahre ich gerade an einer Almwiese vorbei. Wie im Hochgebirge ist es hier, karg, steinig, hügelig. Ich wähle eine von der Vormittagssonne vorgewärmte Grasmatte aus, lege mich auf den Rücken und döse ein wenig.

Schon haben mich zwei Hirtenjungen entdeckt, gut gelaunte Jungs zwischen vierzehn und achtzehn Jahren. Wo kommst du her? Wie geht’s? Sie bieten mir einen Schluck aus einer grünen Literflasche ohne Etikett an. Ich sehe einen weißen Inhalt. Es schmeckt nach frischer warmer Milch, süßlich voll. Einer macht zur Erklärung ein Handzeichen, hält die Hände mit nach oben gestreckten Zeigefingern an seine Schläfen und lacht. Muh! Ich verstehe, dass die Milch von einer Kuh ist. Ich kenne frische Kuhmilch und mag den Geschmack. Pie! – Trink! Ich nehme noch einen Schluck. Der andere wiederholt die Geste mit den Hörnern. Muh! Beide lachen, ich auch. Pie! Ich nehme einen größeren Schluck. Das ist wirklich nicht zu vergleichen mit dem aufbereiteten Zeug aus dem Supermarkt. Außerdem hat diese Milch momentan eine angenehm warme Trinktemperatur. Dobro – Gut, lobe ich. Muh! Wieder Lachen. Ob die meinen, dass der Gedanke, Milch von einer lebendigen Kuh zu trinken, etwas unangenehmes für mich sein müsste? Pie!

Das Spiel geht so lange weiter, bis die Flasche leer ist. Ich gehe davon aus, dass die Jungs ohne größere Probleme an Nachschub für sich selbst kommen. So schnell sie aufgetaucht sind, verschwinden sie wieder hinter der Hügelkuppe, dem fröhlichen Gebimmel nach. Ich mache noch ein kurzes Schläfchen in der Vormittagssonne, bevor ich weiterziehe.

 

Tankstopps

Immer öfter gibt es klassische Zwischenstopps. Ein solcher beginnt damit, dass ich an einem Gartentor vorbeifahre, über das hinweg sich ein paar Leute unterhalten. Einer davon hält mich an, indem er ein paar Mal mittelschnell eine zu mir ausgestreckte flache Hand senkt. Darauf folgt der übliche Schwatz. Woher? Wohin? Wie alt? Beruf? Oft hat jemand einen Verwandten, der in Deutschland arbeitet. Und zu meiner leichten Verwunderung sind diese Leute besonders gut auf die Deutschen zu sprechen.

Recht bald holt jemand eine Flasche Slivovic und ein Glas oder mehrere. Erst lehne ich ab mit der Begründung, dass ich Sport mache und strampeln muss. In der ersten Woche hatte das Erfolg. Hier, im Süden, im Innenland, komme ich damit nicht durch. Du brauchst Sprit!

Offensichtlich macht es bei einem Fremden, einem Ausländer aus dem fernen Deutschland, besonderen Spaß, zuszuschauen, wie sich bei diesem der selbst gebrannte Stoff die Kehle hinunterbrennt. Und auf einem Bein steht man ja bekanntlich nicht gut. Diese Weisheit scheint international bekannt zu sein. Wenigstens kennen die freundlichen Leute nicht meine Ergänzung von „einmal ist keinmal“: fünfmal null ist immer noch null.

Mehr als zwei solcher Stopps am Tag hatte ich eigentlich nie, und beim Rad fahren schwitzt man das vermutlich schnell raus. Aber stark ist das Zeug schon, dem Brennen nach stärker als in Deutschland. Einmal erklärt mir ein junger Mann an Hand eines Etiketts, dass sein Vater ganz offiziell und gewerblich Slivovic brennt. Ich durfte die stärkste Sorte testen. Achtzig Prozent steht auf dem Etikett. Nach dieser Reise wird mir der in Deutschland erhältliche Slivovic schmecken wie Zwetschgensaft.



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